Der Mephisto-Club
Manchmal habe ich das Gefühl, ich bin nur der Beobachter meines eigenen Lebens. Als wäre ich nicht ich selbst, sondern jemand, der eher zufällig in meiner Nähe steht und mich beobachtet. Manchmal ist es auch so, als würde ich über mein Leben lesen, über das ein anderer bereits vor langer Zeit geschrieben hat: Jan langweilt sich sehr. Jan fragt sich, warum ausgerechnet er und sein Freund Karim für diesen Standdienst eingeteilt wurden. Er fragt sich außerdem, wo Karim so lange bleibt, und ob er vielleicht seinen Dienst schwänzen wird. Ich meine, klar, jetzt gerade erzähle ich wirklich über mich. Warum ich das mache? Keine Ahnung. Vielleicht will ich diesem Mysterium Jan Branner (das bin ich) etwas näherkommen – oder zumindest der Frage, warum ich mich nicht rechtzeitig in den Arbeitsplan des Basars eingetragen habe. Hätte ich mir doch ausrechnen können, dass ich sonst am uncoolsten Stand unserer Schule lande.Wahrscheinlich werde ich kein einziges dieser Bastel-Dinge loswerden, die die Fünft- und Sechstklässler produziert haben.Das ist natürlich der Moment, in dem meine Mutter die Bühne betritt: Sie hat ihren Geldbeutel bereits gezückt, bestimmt mit dem festen Vorsatz, mindestens zwanzig Euro auszugeben. Allerdings gerät sogar sie ins Schleudern, als sie sieht, was wir verkaufen.„Was ist das?“ Sie deutet auf den Stapel Briefpapier, das Karla und Franzi aus der 6b gebastelt haben. Sie haben dafür Bilder aus Zeitschriften ihrer Eltern ausgeschnitten und auf weiße Papierbögen geklebt.
„Sieht interessant aus“, sagt mein Vater und greift nach einem Bogen, der mit dem Bild einer Schauspielerin im gelben Badeanzug beklebt ist.Gut, dass meine Mutter sich bereits weggedreht hat. Sie beugt sich über den Pappkarton, in dem die Tannenzapfen liegen, die mit bunten Glittersternen beklebt sind. „Wie viel kosten die?“„Drei Euro das Stück.“ Ich muss mich anstrengen, ernst zu bleiben. Eigentlich soll ich die hässlichen Zapfen für dreißig Cent verkaufen oder vier Stück für einen Euro. Aber wenn ich die Preise so niedrig ansetze, müsste meine Mutter den ganzen Stand leerkaufen, um ihre zwanzig Euro auszugeben. Mein Vater schiebt seine Brille auf der Nase nach vorne, um einen Tannenzapfen genauer zu betrachten. „Ganz schön viel Klebstoff“, stellt er fest. „Das soll Schnee sein“, sage ich schnell. „Ein schneeüberzogener Weihnachtsbaum.“ „Er ist perfekt“, entscheidet meine Mutter. „Ich nehme drei Stück davon für Tante Constanze.“ Mein Vater verdreht die Augen. „Drei Stück kosten zehn Euro“, sage ich. „Dann gibt es ein Blatt Briefpapier gratis dazu“. Ich wickle den Papierbogen mit dem gelben Badeanzugmodel um die drei Tannenzapfen und überreiche das Päckchen meiner Mutter. Sie guckt mich ein bisschen irritiert an, hält dann aber den Zwanzigeuroschein über den Tisch, während sie mit der anderen Hand das Papier-Tannenzapfen-Knäuel in ihre Handtasche stopft. „Stimmt so“, sagt sie laut. „Behalte die zwanzig Euro. Ist ja für einen guten Zweck.“
Man muss meiner Mutter lassen, dass sie eine Begabung für den richtigen Moment hat. Denn genau in diesem Augenblick ist unser Rektor, Herr Obertheim, genannt der Oberst, an den Stand getreten. „Bravo“, sagt er zu meiner Mutter. „Andere Eltern sollten sich ein Beispiel an Ihnen nehmen.“ Was für ein Beispiel, denkt er, sind Mütter, die ihren Schwägerinnen potthässliche Tannenzapfen mit Glitter schenken? „Ach, das ist doch nicht der Rede wert.“ Meine Mutter lächelt bescheiden. „Wir müssen schließlich die jungen Basteltalente unterstützen.“ Mein Vater hüstelt, was verdächtig nach einem unterdrückten Lachen klingt. „Ich glaube, Pape muss etwas trinken“, sage ich. „Im Erdgeschoss verkauft die 12b Glühwein.“