HAUSE
Vormord
Sieht er mich? Hat er mich gerade angelächelt?
Nein.
Wenn Josef lächelt, dann nicht für mich. Schon lange nicht mehr. Für ihn bin ich Luft. Er hat längst vergessen, dass ich sein Ein und Alles bin!
Und doch ...
Sein Lächeln ist das Erste, an das ich mich erinnern kann.
Was vorher war? Die Frage ist für mich bedeutungslos. Genauso wie die Frage, was außerhalb ist. Selbstverständlich weiß ich, dass es ein Vorher gab. Und dass es ein Außerhalb gibt. Ich weiß es aus den Fernsehgeräten, wenn ich meinen Bewohnern abends über die Schultern schaue. Doch das berührt mich nicht. Nicht einmal die Frage, ob die anderen meiner Art, diese Millionen, Milliarden, so sind wie ich. Wir haben keine Sprache und können uns keine Zeichen geben. Und die, die in uns leben, kommen als Boten nicht infrage. Denn die wissen nichts von uns. Wir sind allein. Nichts, das uns verbindet oder je verbunden hat.
Aber das ist mir egal.
Ich bin einfach da. Da, wo sie sind. Die Menschen. Meine Bewohner. Meine Besucher. In mir. Ohne die ich nicht wäre und die ohne mich nicht wären.
Mich selbst kann ich nicht sehen. Es gibt Fotos, darum habe ich eine ungefähre Vorstellung von dem, wie ich "aussehe". Aber schon dieses Wort mag ich nicht. Es interessiert mich nicht. Ich bin nicht wie sie. Bin keiner, dem es ums ‚Aussehen‘ geht. Äußerlichkeiten. Die Menschen machen zu viel Aufheben um ihre bedeutungslose Hülle. Dabei sind sie nichts anderes als Darmbakterien. Bakterien, die mich bewohnen, deren Augen und Ohren auch meine Augen und Ohren sind. Ich habe keine anderen. Ich sehe nur, wenn sie sehen, höre nur, wenn sie hören. Die Menschen sind wie meine Sinne - ohne selbst einen Sinn für das zu haben, was über ihre eigenen, kleinen Körper hinausgeht. Sie haben nicht die geringste Ahnung von mir.
Wenn ich von Wohnung zu Wohnung treibe, ihnen zusehe, wie sie alle dasselbe tun, dasselbe reden, dasselbe essen oder dasselbe Fernsehprogramm anschauen, dann spüre ich ihre Langeweile. Und wenn ich höre, wie sie sich streiten, oder wenn ich ihren Geruch ertragen muss, dann ist mir ihre Existenz lästig.
Aber was soll's? Ich glaube, ich hätte mir nie viele Gedanken über sie gemacht. Oder über mich. Oder über die Frage, was uns verbindet.
Doch vor vielen Jahren schenkte mir einer von ihnen sein Lächeln ...
Da! Schon wieder! Josef lächelt! Das meinte ich.
Stolz betrachtet er sein Gesicht. Ein engelhaft kindliches Gesicht. Ernst, gütig und immer auch ein wenig geheimnisvoll. Ich wünschte, ich könnte in den tiefgründigen Augen versinken, wenigstens über die hohen Wangenknochen streichen! Würde so gerne das kurze, von kräftigen Kiefern gerahmte Kinn berühren. Oder die hohe Stirn küssen.
Ein schönes Gesicht. Von langen, silbergrauen Haaren gekrönt, die wie bei seiner Mutter hinten zusammengebunden sind. Jetzt betastet er mit schlanken Fingern seinen Mund. Schaut mich konzentriert an und schürzt die Lippen. Zieht Grimassen. Die oberen Schneidezähne gebleckt, drückt er sie auf seine Unterlippe, die Nase hochgezogen und die dunklen Augen verkniffen unter den feinen Brauen. Er streckt die Zunge raus. Mir? Nein, sich selbst! Josef schaut in den Wandspiegel über der Werkbank. Er sieht nur sich selbst.
Und trotzdem: Ich lächle zurück. Noch immer ...
[…]